Graf York von Wartenburg (4. Kapitel)
Graf York von Wartenburg [4. Kapitel]
Des Helden Leben und Thaten.
Erzählt von
L. Würdig
Glogau.
Verlag von Carl Flemming.
IV.
Der Rückmarsch aus Thüringen; die Gefechte bei Altenzaum und Wahren; Yorks Gefangennahme in Lübeck.
Endlich – im Oktober 1806 erklärte Preußen Frankreich den Krieg. Yorks Jäger waren schon einige Wochen vorher aus Mittenwalde abgerückt. Auf dem Marsch nach Thüringen passierte es, daß York mit seinem Corps ein Dorf zum Quartier angewiesen bekam, welches, wie man beim Suchen danach gewahrte, schon seit dem dreißigjährigen Kriege nicht mehr existierte.
Preußen hatte 120 000 Mann auf die Beine gebracht, um die heranziehenden Franzosen zu vernichten. Sicherheit, Anmaßung und Stolz über alle Maßen herrschten bei den adligen Offizieren. Ein einziges Beispiel für viele: Yorks Adjutant, Herr von Seydlitz, war Zeuge, als einst ein Offizier vom Generalstab des Herzogs von Weimar seinen Kameraden die Strategie des Feldzugs erläuterte. - „Bis jetzt hat der Feind noch keinen Schritt gethan, den wir ihm nicht vorgeschrieben,“ sagte er. „Unsere Operationen sind so kombiniert, unsere Corps so aufgestellt, daß der Feind überall abgeschnitten und in das strategische Netz getrieben ist. Napoleon ist so gewiß unser, als wenn wir ihn schon in diesem Hute hätten.“ - Viele, fügt Seydlitz in seine Tagebuche hinzu, erhoben sich auf den Zehen und sahen in den Hut hinein, in den der großsprecherische Offizier mit dem Finger deutete.
In Wahrheit aber stand es ganz anders. Des Höchstkommandierenden, des Herzogs von Braunschweig Feldzugsplan kannte außer ihm selbst kein Mensch. Man hatte im Hauptquartier wenig oder gar keine Kunde von den Bewegungen des Feindes, keine Ahnung von der Schnelligkeit und Präcision desselben. In allen Bewegungen der Preußischen Armee fehlte es an Einheit; ein Corps wußte nichts von dem andern; es mangelte an Quartieren, an Verpflegung, kurz, es war überall die größte Unordnung zu finden.
Unserem York blutete das Herz über solche heillose Zustände. Er war mit seinen Jägern der Avantgarde des Herzogs von Weimar zugeteilt. Während diese auf der großen Mainstraße dahin marschierte, um die Bagage der Franzosen aus irgend einem Versteck zu überfallen, „einen schönen Coup“ zu machen, erfuhr man plötzlich, daß der Feind bereits über die Saale gesetzt sei und die Scharen Tauentziens und Hohenlohes geschlagen habe. - Schleunigst wurde der Rückmarsch angetreten. Schon in Eisfeld erfuhr man den Tod des heldenmütigen Prinzen Louis Ferdinand bei Saalfeld. Gerüchte von einer verlorenen Schlacht verbreiteten sich; die Offiziere ritten und gingen in leisen Gesprächen nebeneinander her; es war eine Stimmung, als sei schon alles verloren. Keinem schien das nahende Verderben sicherer als York; aber er war der Mann nicht, jetzt den Kopf sinken und Entmutigung unter den Truppen einreißen zu lassen. In fester, strammer Haltung ritt er an den Zügen auf und ab, jedes Versehen sogleich bemerkend, jede Nachlässigkeit rügend.
Einigen Offizieren, die in heiterem Plaudern nicht auf ihre Leute achteten, rief er zu: „Weshalb jetzt die Gespräche, meine Herren! Sehen Sie da, ein Knäuel von Pferden! - Lassen Sie dort die Züge nicht auseinander kommen! - Sehen Sie dort den Kerl, wie er auf seinem Pferde hängt, er wird es drücken!“ und so weiter. Und solch ein Wort Yorks wirkte. Jeder war da schnell auf seinem Posten.
Am 15. Oktober erreichte man Arnstadt. Hier bekam man genaue Nachrichten von den zersprengten Corps des Generale Hohenlohe und Rüchel, von den ungeheuren Verlusten bei Jena und Auerstädt. Von einer Anhöhe des Dorfes Schmiera sah York die Trümmer des stolzen preußischen Heeres heraneilen. In jämmerlichem Durcheinander wälzte sich die Masse der Festung Erfurt zu, in der man sichere Zuflucht zu finden hoffte. - Das ihm anvertraute Corps zu retten, zog der Herzog von Weimar ungefähr eine Meile vor Gotha nach Langensalza, von dort nach Mühlhausen und so weiter, dem Norden zu. In Wolfenbüttel vereinigte man sich mit dem General Blücher, der mit einem Teil seines Corps und etwa vierzig Kanonen der Vernichtung bei Jena entgangen war. Mit dem nun vereinigten, zwanzigtausend Mann starken Corps wollten Blücher und der Herzog zunächst die Elbe erreichen, um dem Feinde in die Flanke zu fallen. Auf dem Wege dahin erfuhr man aber von der Nähe des weit überlegenen Soultischen Corps, und mußte nun sehr behutsam marschieren.
Am 25 Oktober traf man wenige Stunden von Stendal entfernt auf das genannte feindliche Corps. Während der Herzog und Blücher mit ihren Scharen nun eiligst bei Sandau über die Elbe setzen wollten, ward York beauftragt, diesen Übergang mit aller Kraft zu decken. Sein Plan war bald entworfen. Auf dem von Alleen, Gräben und Hecken vielfach durchschnittenen Terrain bei dem Dorfe Altenzaum, ungefähr ein Stündchen oberhalb der Fährstelle bei Sandau, nahm er eine vortreffliche Stellung. Gegen vier Uhr nachmittags erschien der Feind. Seine Kavallerie wurde sofort von den Preußen geworfen, und die herangezogene Infanterie erlitt dasselbe Schicksal. Die Yorkschen Jäger nahmen jedesmal sicher ihren Mann aufs Korn. Als Oberst York erst noch einige Geschütze hatte herbeischaffen lassen, ging die Sache noch besser. Der Feind kam bald in eine wahrhaft peinliche Lage. Eins seiner abgesessenen Dragonder-Regimenter ward von Yorkschen in regellose Flucht geschlagen, und York schob seine Vorposten bis in die Nähe des Dorfes. Er und seine Leute waren in der Stimmung, daß sie es mit einem doppelt so starken Feinde aufgenommen hätten.
So ward mit Gottes Hilfe und durch den Mut der tapferen Truppen die nicht leichte Aufgabe gelöst; das Weimarsche und Blüchersche Corps hatten glücklich die Elbe überschritten. Jetzt war es an York, dasselbe zu thun. Da mußte die alte verbrauchte List mit den Wachtfeuern von neuem herhalten, und York wandte sie mit so viel Geschick an, daß der Feind völlig getäuscht wurde. Während nämlich die Bauern der Umgegend in einem weiten Kreise Wachtfeuer unterhalten mußten, die den Feind auf ein sehr starkes preußisches Corps schließen ließen, setzte auch York mit den Seinen unangefochten über den Strom.
In Havelberg legte der Herzog von Weimar das Kommando nieder, um in sein Land zurückzukehren; an seine Stelle trat Blücher.
Am 30. Oktober erfuhr man von der schmachvollen Kapitulation des Fürsten Hohenlohe bei Prenzlau. Da durch dies Ereignis der Weg nach dem Osten der Monarchie verlegt worden war, erhoben sich viele Stimmen für den Plan, über Rostock zu Schiffe zu gehen. Blücher war andern Sinnes. Noch waren an zwanzigtausend Preußen beisammen und dabei die Besten des Landes: Blücher, York, Scharnhorst, Müffling und andere. Nötigenfalls getraute man sich den Franzosen noch eine Schlacht zu liefern. So wandte man sich westwärts, in größter Eile marschierend, unablässig vom Feinde gedrängt. Aber bald mußte die äußerste Erschöpfung bei Menschen und Pferden eintreten, denn in vierzehn Tagen hatte man ohne geordnete Verpflegung fünfzig Meilen zurück gelegt.
York befehligte die Nachhut. Jenseit des mecklenburgischen Fleckens Wahren kam es zum Zusammenstoß mit den Franzosen. Da seine Truppen in großer Gefahr waren, ließ der tapfere Führer Vierecke schnell formieren und die Husaren sich zum Angriff fertig machen. Doch es waren ihrer zu wenig gegen die Übermacht. Darum zog York schnell noch die Husaren des braven Majors von Katzler heran, und nun ging‘s, links abschwenkend, der Landstraße zu, mit Hurra auf die Franzosen. Ein blutiges Handgemenge entstand. York sprengte mitten hinein. Bald empfing er einen schweren Säbelhieb auf den Arm, dennoch ließ er nicht eher ab, als bis die Franzosen völlig zurückgeworfen waren.
So war wieder einmal ein echt preußisches Stücklein gewagt, eine ehrenvolle That vollführt bei den vielen ehrlosen Vorgängen dieses unglückseligen Herbstes.
Aber bald kam der Feind wieder. In der Nähe des Dorfes Jabel sandte er Schwärme von Tirailleurs voraus. Da galt‘s für York und seine Jäger zu zeigen, was sie in dieser Gefechtsart gelernt hatten. Mit bewunderungswürdiger Sicherheit, je zwei Schützen nebeneinander, so daß der eine des Kameraden Ladung abwartete, zogen sie sich auf das Dorf zurück, um erst in einem zwischen zwei Seen gelegenen Sumpf- und Waldrevier das rechte Terrain für ihre Büchsen zu finden. Von Bäumen und Sträuchern gedeckt, sandten die Jäger, unter ihres Führers trefflicher Leitung, im langsamen Weichen dem Feinde ihre nie fehlenden Kugeln zu, so daß die Franzosen gezwungen wurden, vorderhand das Verfolgen einzustellen. In rechter Muße suchten sich nun die Jäger die passendsten Plätze aus. Spähenden Blicks, mit gespanntem Hahn nahmen sie, wie auf dem Anstande das Wild, jetzt die wieder heranrückenden Franzosen aufs Korn. Bis auf die Entfernung, wo der Jäger den Hirsch nicht gut fehlen kann, ließen sie jetzt den Feind sich nähern, - dann aber knallten ihre Büchsen, und was nicht fiel, das floh. - Da rückten die erzürnten Feinde mit gefälltem Bajonett in Kolonnen heran. Erst auf dreißig Schritt Entfernung knallten die Büchsen der mutigen Jäger; jede Kugel saß, und der Sturmlauf der Feinde kam von dieser Überraschung ins Stocken. Das war es, was York gewünscht, und da keine Zeit zum neuen Laden der Büchsen war, ließ es eiligst zum Rückzug blasen. In vollem Lauf wurden die Jäger von den Husaren aufgenommen. - Auf einer Ackerlehne mit begrenztem Wiesengrund, an dessen Saum sich eine dichte Reihe Weidenbäume anschloß, versuchten die Franzosen wiederholt Jagd auf die Preußen zu machen. Unserm York fiel die Ähnlichkeit dieser Gegend mit der Mittenwalder auf, und auch wohl mancher Jäger mochte diese Entdeckung machen. Sonderbare Gedanken kamen über York. Wie oft hatte er dort die Seinen mit dem ihnen verhaßten Dienstzwang gepeinigt, wie oft harte, böse Worte gegen sie gebraucht. Wenn jetzt einer dieser Bursche für jene Zeit und Behandlung Rache an den strengen Führer nähme? Daß ihn die Jäger fürchteten, wußte er; es kam auf die Probe an, ob sie ihn haßten. So ritt er während des Feuers seiner Jäger langsam an der Front hinunter, das Gesicht fortwährend dem nicht recht herankommenden Feinde zugewandt. Aber keine Kugel kam. „Jäger,“ rief York nach Beendigung des Gefechts, „daß mich der Franzos nicht treffen würde, wußte ich wohl, aber ich glaubte, dieser oder jener von Euch würde eine Kugel für mich haben. Vergebt mir mein Mißtrauen, Ihr wackern Männer, und von heute an betrachte ich mich als Euren Vater, Euch als meine Kinder!“
Unter fortwährenden Kämpfen mit dem nachrückenden Feinde, nach qualvollen Märschen durch Sand und Bruch kam die Spitze der Preußen endlich den 5. November gegen Abend ganz erschöpft in Lübeck an. Blücher glaubte hier unangefochten zu bleiben, da man sich auf neutralem dänischen Boden befand. - York war todesmatt; denn da er den bei Wahren empfangenen Säbelhieb nicht beachtet hatte, war der Arm sehr angeschwollen und schmerzte ihn überaus heftig. Es war den 6. November früh neun Uhr, als er mit Nachtrab in Lübeck eintritt. Im „Großen Christophel“ erhielt er mit Seydlitz Quartier. Als er sich zu kurzer Ruhe nierderlegte, gab er noch Befehl, ihn zu wecken, sobald das geringste passiere. Schon nach einer Stunde stürmten die Franzosen auf drei Punkten gegen die Stadt vor. Von dem Lärm geweckt, eilte York mit seinen Jägern dem Feinde entgegen. Es wurde heldenmütig, des altpreußischen Namens würdig gekämpft, und mehrere Stunden stand das Gefecht an allen drei Thoren. Doch gegen die Übermacht war die Dauer nichts auszurichten; nach ein Uhr mittags drangen die Franzosen in Lübeck ein. York wehrte sich mit seinen Jägern soviel er konnte, aber bald erhielt er einen Schuß und stürzte zusammen. Im ersten Schrecken wichen auch die Jäger, unbekümmert um ihren blutenden Oberst, zurück. Da rief ihnen Blücher zu: „Bursche, wollt ihr Euren wackern Oberst verlassen?“ - „Nein!“ lautete die Antwort, und noch einmal drangen sie wacker fechtend vor, eroberten den Kaufberg und bemächtigten sich der Burgstraße. Doch umsonst; während hier tapfer gekämpft wurde, drang der Feind auch zum Holstenthore herein.
York war am rechten Schlüsselbein verwundet. Als er nach dem Sturze wieder aufsprang und mutig den Degen schwang, empfing er eine zweite Wunde, einen Bajotettstich in die Brust. Und noch nicht genug, auf den Unterleid des von neuem Zusammenbrechenden warf sich jetzt ein Franzose mit solcher Kraft, daß sofort ein Doppelbruch heraustrat. In furchtbaren Schmerze rief York einen französischen Offizier an, ihn von diesem Wüterich zu befreien, was denn auch sogleich geschah. Der verwundete York wurde in die Ratsapotheke geschafft, doch erst am andern Tage wird ihm der erste Verband angelegt. Glücklicherweise waren seine Wunden nicht gefährlich. Der Arzt erlaubte ihm schon am vierten Tage das Bett wieder zu verlassen. Aber desto mehr litt er innerlich, da er erfuhr, welche Greuel die Franzosen in der unglücklichen Stadt verübt hatten. Einige Tage später kam der Verwundete in das Haus eines Lübecker Ratsherrn, wo er eine sehr freundliche Aufnahme und Pflege fand. Die Nachricht von Blüchers Kapitulation bei Ratkau, die man ihm aus Schonung längere Zeit verschwiegen hatte, war dem Helden äußerst schmerzlich. Zu Anfang des Jahres 1807 ward York auf Ehrenwort entlassen und durfte bis zum Friedensschluß nach Mittenwalde zurückkehren.
Als er ganz unvermutet in sein Haus trat, ward er auf den ersten Blick von Weib und Kindern nicht wieder erkannt. Nur sein Kanarienvogel erinnerte sich seiner: er flatterte wie vor Freude in seinem Käfig und sank dann plötzlich tot zu Boden.
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